Die komplementäre Medizin ist in der Schweizer Bevölkerung stark verankert

«Die komplementäre Medizin ist in der Schweizer Bevölkerung stark verankert»

Ursula Wolf leitet seit 2018 das Institut für
Komplementäre und Integrative Medizin IKIM
an der Universität Bern. Mit doc.be hat sie
über ihre Pläne für das Institut und den Stellenwert
der komplementären und integrativen Medizin
in der Gesellschaft gesprochen.

Interview: Nicole Weber, Presse- und
Informationsdienst (PID)
Foto: Maurice Gisler, IKIM

Frau Wolf, im Jahr 2014 haben Sie doc.be
schon einmal ein Interview über Ihren
schweizweit einzigartigen Lehrstuhl in
anthroposophisch erweiterter Medizin gegeben; seit 2018 leiten Sie nun das gesamte
Institut für Komplementäre und Integrative
Medizin IKIM an der Universität Bern.
Wie hat sich das IKIM seit unserem letzten
Gespräch entwickelt?

Seit 2014 hat sich das Institut gut entwickelt und
eine Stärkung erfahren. Es ist jetzt noch besser etabliert, hat klare Strukturen und – was mir als Institutsdirektorin ein besonderes Anliegen ist – die
fachliche Vielfalt ist erhalten geblieben.

Wie hat sich die Lehre am Institut entwickelt? Wurde das Angebot ausgebaut?

Die Anzahl der Lehrveranstaltungen hat sich seit
2014 nicht verändert, das gilt aber auch für andere
Fächer. Das Berner Medizin-Curriculum umfasst
insgesamt relativ wenige Vorlesungen. Wir sind
in fast allen Studienjahren mit Lehrangeboten
vertreten und die Wahlpraktika sind gut besucht.
Ausserdem gibt es Vorlesungen und Kurse im
Pflichtcurriculum, die die Studierenden besuchen
müssen. In dieser Hinsicht hat die Universität Bern
schweizweit die Nase vorn. Das ist im Einklang mit
dem Medizinalberufegesetz MedBG, das fordert,
dass Medizinstudierende (wie auch Pharmazieund Veterinärmedizinstudierende) Lehrveranstaltungen zu komplementärer und integrativer Medizin haben. Wir bieten am IKIM auch Master- und
Dissertationsarbeiten an. Die Themen, die ich ausschreibe, sind meistens schnell vergeben, und ich
habe immer gleichzeitig vier bis fünf Studierende,
deren Masterarbeiten ich betreue. Einerseits sind
das Literaturstudien (Reviews), andererseits gibt
es die Möglichkeit, sich an klinischen Studien zu
beteiligen. Zudem habe ich ein grosses, mehrjähriges Projekt zur Untersuchung der Wirkung von
Farblicht auf den Menschen. An diesem experimentellen Projekt sind ebenfalls viele Studierende
mit Master- wie auch Dissertationsprojekten beteiligt.

Gibt es bereits Forschungsprojekte zu COVID-19?

Bei uns am Institut nicht. Es gibt aber gute Erfahrungswerte aus Spitälern, die integrativ-medizinisch arbeiten. Basierend darauf könnte man untersuchen, wie der Verlauf bei stationär integrativ
behandelten Patientinnen und Patienten ist. Das
wäre durchaus ein Forschungsprojekt wert.

Was könnte die komplementäre oder integrative Medizin hier beitragen?

Es gibt beispielsweise die Möglichkeit, bei einer
Pneumonie nicht nur konventionell medizinisch
zu behandeln, sondern Massnahmen aus der Komplementär- und Integrativmedizin ergänzend anzuwenden. Das können äussere Anwendungen wie
Wickel oder Auflagen sein. Das klingt vielleicht
überraschend, aber Wickel haben in der anthroposophisch erweiterten Medizin eine ganz klare
Ratio und lassen sich gut mit Arzneimitteln kombinieren. Es ist aber auch möglich bei COVID-19-
Erkrankung mit Arzneimitteln aus der komplementären Medizin zu behandeln. Um die synergistische
Kombination geht es ja in der integrativen Medizin. So haben wir als Ärztinnen und Ärzte eine
klassische medizinische Ausbildung und dazu die
Spezialisierungen in spezifischen Fachrichtungen,
ebenfalls mit Diplom (Fähigkeitsausweis). Diese Diplome werden von der gleichen Institution
(SIWF, früher FMH) vergeben wie die Facharzttitel. Das ist eine Besonderheit der Schweiz. In diesem Sinne hat man zwei Ausbildungen und arbeitet
dementsprechend integrativ.

Sind Sie selbst auch nach wie vor klinisch tätig?

Meine Hauptaufgaben als Professorin sind Lehre
und Forschung. Aber es wurde mir, auf meinen
Antrag hin, bewilligt, auch weiterhin in der Patientenversorgung arbeiten zu können. Das mache ich
sehr gerne und ich finde es wichtig, weiterhin am
«Puls der Realität» und der praktischen Umsetzung zu bleiben.

Wie erleben Sie die Position und den Stellenwert der integrativen Medizin
in der Gesellschaft? Sehen Sie in den letzten Jahren eine Entwicklung?

Die komplementäre und integrative Medizin ist in
der Schweizer Bevölkerung seit vielen Jahren stark
verankert. Das hat man bei der Initiative «Ja zur
Komplementärmedizin» gesehen, und man weiss
es durch Umfragen: Mehr als 50 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz nutzt komplementäre oder
integrative Medizin. Neuere Umfragen zeigen sogar eine Lifetime Prevalence von über 70 Prozent,
bei Karzinompatienten sind es über 90 Prozent.
Auch am IKIM haben die Patientenzahlen bei den
ambulanten Sprechstunden und den Konsilien
im Inselspital eindeutig zugenommen. Am IKIM
praktizieren wir keine Grundversorgung, die Patientinnen und Patienten werden von Kollegen und
Kolleginnen beispielsweise vom Inselspital und
von Praxen/Praxiszentren aus dem Kanton Bern
und der ganzen Schweiz zugewiesen. Wir machen
keine Werbung, aber die Patientenzahlen steigen,
das bedeutet: Entweder sind die Patientinnen und
Patienten zufrieden, oder die Zuweisenden sind
es – oder beide.

Die integrative und komplementäre Medizin ist an den medizinischen Fakultäten der
Schweiz noch wenig verbreitet. Wie steht es um den Stellenwert des Instituts an
der Universität Bern?

Wir sind mit dem IKIM an der Universität und in
der medizinischen Fakultät gut eingebettet und
anerkannt. Ich selbst wurde gut in der medizinischen Fakultät aufgenommen, und da ich eine
kommunikative Person bin, haben sich auch Kooperationen ergeben. In den ersten Jahren war es
so, dass ich Kooperationspartner für Forschungsprojekte suchen musste; inzwischen kommen auch
Kolleginnen und Kollegen mit Forschungsfragen
oder -ideen auf mich zu.

Welche Kooperationen gibt es mit anderen Instituten und Kliniken?

Das IKIM hat Kooperationen für Grundlagenund klinische Forschung. So gab oder gibt es in der
klinischen Forschung beispielsweise gemeinsame
Projekte mit der Klinik für Neonatologie und der
Klinik für Urologie. Aktuell läuft eine Studie zusammen mit dem Departement Radioonkologie
des Inselspitals zur Prophylaxe und Behandlung
des Strahlenerythems. In der anthroposophisch
erweiterten Medizin gibt es dafür ein Präparat, mit
dem man gute klinische Erfahrungen gemacht hat.
Auch ich verordne es betroffenen Patienten/-innen,
die uns zugewiesen werden, und die Klinik für
Radioonkologie des Inselspitals und die des Lindenhofspitals sind darüber informiert. Um die klinischen Erfahrungen wissenschaftlich zu überprüfen,
führen wir jetzt mit dem Inselspital eine kontrollierte Studie dazu durch.

Welche Schwerpunkte möchten Sie mit Ihrem Institut in Zukunft setzen?

Die Schwerpunkte sind durch die drei Fachrichtungen gegeben: Klassische Homöopathie, TCM/
Akupunktur und anthroposophisch erweiterte
Medizin. Innerhalb der Fachrichtungen gibt es
einerseits Grundlagenforschung, die wir ausbauen
möchten. Also untersuchen, wie etwas wirkt, und
nicht nur, ob es wirkt. Zum Beispiel: Was ist die Besonderheit eines bestimmten Akupunktur-Punkts?
Wieso sticht man genau dort und nicht zwei Zentimeter daneben?
Die Forschungsfragen für die klinische Forschung
entzünden sich vor allem an Krankheitsbildern
oder Indikationen, für die es konventionell-medizinisch keine befriedigenden Therapieoptionen oder
solche mit störenden Nebenwirkungen gibt. So beispielsweise für die Chemotherapie assoziierte Neuropathie (CIPN). Konventionell-medizinisch gibt
es keine wirksame Therapie; man kann daher nur
die Dosis der Chemotherapie reduzieren oder weniger Zyklen durchführen. Hier plane ich mit der
Klinik für Medizinische Onkologie des Inselspitals
eine doppelt verblindete randomisierte kontrollierte Studie zu einem Arzneimittel aus der anthroposophisch erweiterten Medizin, das in der klinischen
Anwendung und in einer Beobachtungsstudie amIKIM Hinweise auf eine Prophylaxe oder weniger
starke Ausprägung der CIPN gezeigt hat.

An der Universität Bern gibt es seit 2019 wieder ein Vollstudium Pharmazie;
das Masterstudium ist der Medizinischen Fakultät angegliedert. Hat das IKIM dort
auch Vorlesungen?

Wir sind im Masterstudium mit 20 Lehrstunden
beteiligt. Das ist wichtig, denn auch Pharmazeuten/-innen, die in einer Apotheke arbeiten, müssen
komplementärmedizinische Grundlagen besitzen,
weil Apotheken nebst Arztpraxen die erste Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten sind.

Mit Yvonne Gilli wurde eine Spezialistin in homöopathischer Medizin zur neuen
FMH-Präsidentin gewählt, das neue FMHZV-Mitglied Jana Siroka ist auch der
anthroposophisch erweiterten Medizin verbunden. Wie sehen Sie das Verhältnis
der Standespolitik zur integrativen Medizin?
Denken Sie, es wird sich verändern?

Beide Ärztinnen haben Fachärztinnentitel (Allgemeine Innere Medizin und Intensivmedizin) und
ausgewiesene Erfahrung in der Standespolitik und
wurden aufgrund dieser gewählt. Yvonne Gilli
war vorher schon im Zentralvorstand. Jana Siroka
war Präsidentin des VSAO Zürich und damit auch
standespolitisch aktiv. Sie haben Aufgaben innerhalb des ZV zu erfüllen, an denen sie gemessen
werden. Aber es ist auch wichtig zu wissen, dass
ca. 2000 Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz einen
Fähigkeitsausweis in der Komplementärmedizin
haben und noch mehr Ärztinnen und Ärzte komplementäre und integrative Medizin praktizieren.
Es verwundert also nicht, dass auch innerhalb der
FMH komplementäre und integrative Medizin
positiv gesehen wird.

Haben Sie in diesem Zusammenhang ein Anliegen an die BEKAG und ihre
Mitglieder?

Ich würde mich über einen weiteren Austausch
freuen, der das Miteinander mit der integrativen
Medizin fördert. Man kann mich auch gerne bei
Fragen kontaktieren, und ich wäre beispielweise
auch bereit, an einer Veranstaltung der BEKAG
teilzunehmen, um über komplementäre und integrative Medizin zu informieren. Ich fände es schön,
wenn die BEKAG das Bedürfnis der Bevölkerung
nach komplementärer und integrativer Medizin
weiterhin ernst nehmen wird und die positive und
unterstützende Haltung gegenüber Komplementärund Integrativmedizin gut sichtbar bleibt.

Möchten Sie unseren Mitgliedern eine Message mitgeben?

Wir wissen, dass die integrative Medizin von vielen Patientinnen und Patienten geschätzt wird. Ich
möchte meine Kolleginnen und Kollegen ermutigen, damit zu arbeiten. Letztlich ist das nicht nur
für die Patientinnen und Patienten gut, sondern
macht auch den Ärztinnen und Ärzten Freude, in
einem interdisziplinären Setting zu arbeiten.

Das Interview fand am 21.Dezember 2020 statt.