Sollen wir Kinder und Jugendliche gegen COVID-19 impfen?
Bernhard Wingeiera, Pierino Avoledob, Lisa Schmid-Thurneysenc, Clara Zimmermannc, Corina Schwendenerc, Laura Kienerc, Léna G. Dietrichc, Martin Iffd, Martin Schmidte, Tanja Grandinettif, André Perrenoudg, Ramon Möllerh, Patrick Gutschneri, Björn Riggenbachj, Barbara Bertischk, Peter Carpl, Svend Capolm, Jürg Fröhlichn, Alexandra Röllino, Henriette Hug-Batscheletp, Simon Fluriq, Jürg Streulir, Anne Meynards, Gisela Ettert, Benedikt Huberu, Philip Tarrc
aAbteilung Pädiatrie, Klinik Arlesheim, Arlesheim BL; bPädiatrie FMH, Kinderarztpraxis Rennweg, Basel; cMedizinische Universitätsklinik und Infektiologie/ Spitalhygiene, Kantonsspital Baselland, Bruderholz, Universität Basel; dAllg. Innere Medizin FMH, Praxis Zentrum Reinach BL; ePädiatrie FMH, aerzte am werk, Rheinfelden AG; fNotfallzentrum, Universitätsspital Basel; gPädiatrie FMH, Aarau; hPädiatrie FMH, Pratteln BL; iAllg. Innere Medizin FMH, Gemein- schaftspraxis Worblental, Ittigen BE; jAllg. Innere Medizin FMH, Neuchâtel; kInfektiologie FMH, Checkin Helvetiaplatz, Zürich; lPädiatrie FMH,Yverdon-les-Bains VD; mAllg. Innere Medizin FMH, Sanacare Gruppenpraxis, Luzern; nInnere Medizin FMH, Bern; oAllg. Innere Medizin FMH, Bern; pPädiatrie FMH, Kinderarztpraxis Davidsboden, Basel; qPädiatrie & Neonatologie FMH, Spital Wallis; rOstschweizer Kinderspital, St. Gallen; 2Médecine Générale FMH, Centre Médical de Lancy GE et IuMFE, Faculté de médecine, Université de Genève; tAllg. Innere Medizin FMH, Richterswil ZH; uKlinik für Pädiatrie, HFR Fribourg – Kantonsspital, Universität Fribourg
Kinder sollen bei jeder Impfung vor allem einen persönlichen Nutzen haben. Wegen dem meist milden und komplikationslosen Verlauf im Fall einer COVID-19- Ansteckung und der noch ungenügend dokumentierten Sicherheit der COVID-Impfungen empfehlen wir Zurückhaltung und eine differenzierte individuelle Beurteilung bei der Empfehlung der COVID-19-Impfung für Kinder und Jugendliche.
Einleitung
Wir begrüssen ausdrücklich die Anstrengungen der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF), bei der am 22.06.2021 ausgesprochenen COVID- 19-Impfempfehlung für 12–15-jährige Jugendliche eine nuancierte und transparente Sprache zu wählen. Denn das Thema ist ethisch komplex und das Spektrum der Meinungen ist breit – bei Eltern, Jugendlichen und Ärzt*innen: Manche Eltern fordern die Impfung für ihre Kinder [1], andere sorgen sich um noch unbekannte Nebenwirkungen der Impfung. Aufgrund unserer klinischen Erfahrung mit Impfberatung und unserer Forschungserfahrung im Nationalen For- schungsprogramm NFP74 zu Impfskepsis [2] möchten wir zu COVID-19-Impfungen bei Kindern Stellung nehmen.
Was wollen wir mit der COVID-19-Impfung in der Schweiz erreichen?
Das BAG und die EKIF haben schon Anfang 2021 drei übergeordnete Ziele der COVID-19-Impfung definiert und am 22.06.2021 aktualisiert:
- Verminderung der COVID-19-Krankheitslast, insbesondere von schweren und tödlich verlaufenden Fällen;
- Sicherstellung der Gesundheitsversorgung;
- Reduktion der negativen gesundheitlichen, psychischen, sozialen wie wirtschaftlichen Auswirkungen
Ist die COVID-19- Impfung von Kindern und Jugendlichen notwendig, um eine Herdenimmunität zu erreichen?
Dass wir mit der COVID-19-Impfung eine Herdenimmunität erreichen können, wird von Expert*innen be- zweifelt. Die Herdenimmunität ist daher aktuell kein Ziel der COVID-19-Impfstrategie des BAG/EKIF. Zudem machen Jugendliche zwischen 12 und 15 Jahren nur 4% der Schweizer Bevölkerung aus und Kinder spielen bei der Übertragung von SARS-CoV-2 nur eine untergeordnete Rolle [4, 6–8]. Die Altersgruppe der 12–15-Jährigen ist zwar heterogen bezüglich Verhalten und Ansteckungsrisiko, aber Kinder und Jugendliche werden leichter durch infizierte Familienmitglieder im Haushalt angesteckt als umgekehrt [7–8]. Breites Testen in Schulen machte in den vergangenen Monaten Sinn. Gewisse Expert*Innen empfehlen nun aber: Sobald die meisten Erwachsenen geimpft sind, könnte die Zirkulation von SARS-CoV-2 bei Kindern sogar wünschenswert sein: mild verlaufende Primärinfektionen im Kindesalter erlauben Re-Expositionen und somit Booster-Effekte bei den immunisierten Erwachsenen [4].
Wie häufig sind schwere COVID-19-Verläufe bei Kindern?
Kinder hatten bisher fast immer einen milden COVID- 19-Verlauf, sogar wenn sie mit einer SARS-CoV-2-Variante erkrankten [4, 9]. Nur sehr wenige Kinder mussten wegen COVID-19 hospitalisiert werden und das Sterberisiko ist extrem tief [5]. Wichtig: Alle Kinder, die im Vereinigten Königreich an COVID-19 starben, hatten schwere Vorerkrankungen. Pädiatrische Folgeschäden wie das pädiatrische inflammatorische Multisystem Syndrom (PIMS) sind sehr selten (<0,5% aller Kinder von Depressionen, Suizidgedanken, anderen mentalen Gesundheitsproblemen und kinderpsychiatrischen Behandlungen.
Wie sollen wir die Impfsicherheit der COVID- 19-Impfung für Kinder und Jugendliche aktuell beurteilen?
Weil Kinder und Jugendliche sehr selten schwere COVID-19-Verläufe haben, ist der individuelle Nutzen für sie – wenn überhaupt vorhanden – sehr klein. Die Anforderungen an die Impfstoffsicherheit sind umso höher. Aktuell ist die Sicherheit der mRNA-Impfstoffe bei Kindern und Jugendlichen ungenügend dokumentiert: Es liegen aktuell lediglich publizierte Daten zu 1131 jungen Menschen (12–15 Jahre) vor, die mit dem mRNA-Impfstoff von BioNtech/Pfizer geimpft und da- nach erst über 2 bis max. 5 Monate beobachtet wurden [12]. Über seltene, potentiell schwere Nebenwirkungen und Langzeitnebenwirkungen ist daher noch keine Aussage möglich. Lokale und systemische Nebenwir- kungen waren in der Studie [12] vorübergehend und sie waren ähnlich ausgeprägt wie bei älteren Menschen. Schwere Komplikationen wie Thrombosen oder Ana- phylaxien traten nicht auf. Kürzlich wurde über das seltene Auftreten von Myokarditis-Fällen bei jungen Erwachsenen (mehrheitlich junge Männer >16 Jahre, meist innert einigen Tagen nach der 2. Impfdosis) nach mRNA-Impfungen berichtet [13, 14]
Braucht es die Impfung um Kinder und Jugendliche vor COVID-19 zu schützen?
Es gibt aktuell (22.06.2021) in der Schweiz keine generelle COVID-19-Impfempfehlung für Kinder/Jugendliche (Kasten 1). Kinder und Jugendliche gehören nur zur Priorität («Zielgruppe») der EKIF [3].
In Israel, wo die Erwachsenen früh und breit geimpft wurden (63,6% der Bevölkerung haben Stand 22.06.2021 mindestens eine COVID-19-Impfdosis erhalten [15]), sind die Fallzahlen bei allen Altersgruppen – also auch bei den ungeimpften Kindern/Jugendlichen– schon seit vielen Wochen dramatisch zurückgegangen [15, 16]. Denn mit der Impfung ab dem 12. Lebensjahr wurde in Israel erst am 9. Juni 2021 begonnen [17]. Wo genügend Erwachsene geimpft sind, profitieren also auch die ungeimpften Kinder und Jugendlichen.
Long-COVID-19 spielt für Kinder wahrscheinlich keine Rolle, aber zuverlässige Daten fehlen noch. Gewisse Vorerkrankungen (z.B. Adiposi- tas) prädisponieren Kinder zu schwereren Verläufen [4]. Die sozio-psychologischen Folgen der COVID- 19-Pandemie stellen hingegen eine hohe Belastung für die Kinder und Jugendlichen dar [11]: Es kam 2020 bei Kindern/Jugendlichen zu einer deutlichen Zunahme.
Kasten 1: Für welche Kinder und Jugendliche ist die COVID-19-Impfung empfohlen?
- Kinder/Jugendliche mit einer chronischen Erkrankung;
- Kinder/Jugendliche mit besonders gefährdeten Personen im Umfeld;
- Kinder/Jugendliche, die die Impfung wünschen (nach persönlicher Risiko-Nutzen-Analyse).
Wie können wir Jugendliche bei einer individuellen Risiko-Nutzen-Abwägung vor der Impfung unterstützen?
Ein guter Impfentscheid beinhaltet immer ein Abwägen der Vor- und Nachteile. Die Jugendlichen sollen motiviert werden, ihre Fragen mit ihrer Ärztin oder ihrem Arzt zu besprechen. Die Kommunikation soll altersentsprechend, verständlich und praktisch er- folgen, allenfalls unterstützt durch geeignetes Informationsmaterial (z.B. des deutschen Robert Koch Instituts [18]), das die wichtigsten Punkte zusammenfasst (Kasten 2). Eine adäquate, individuelle Impfberatung ist bei der Kinder- oder Hausärztin eher möglich als in Apotheken oder Impfzentren. Zur Unterstützung der Jugendlichen und ihrer Eltern braucht es ein ruhiges Gespräch mit genügend Zeit. Viele Kin- der/Jugendliche wollen sich wegen der möglichen gesellschaftlichen Erleichterungen impfen lassen. Hier sollte genau überlegt werden, ob der kurzfristige Nutzen die potentiellen kurz- und längerfristigen Risiken wirklich übertreffen.
Wir möchten unsere Überlegungen wie folgt zusammenfassen:
- Die bei Kindern/Jugendlichen noch nicht etablierte Sicherheit der mRNA-Impfstoffe erinnert uns an unseren ärztlichen Auftrag (primum nihil nocere).
- Kinder sollen bei jeder Impfung vor allem einen persönlichen Nutzen haben. Eine «Herdenimmunität» gehört aktuell nicht zu den Impfzielen von BAG/EKIF. Die Impfung der Kinder und Jugendlichen ist aktuell nicht indiziert, um die Risikogruppen zu schützen [6], sie ist nicht nötig um die Impfziele von BAG/EKIF zu erreichen, und sie ist nicht nötig, um die Kinder/Jugendlichen vor Ansteckungen schützen, wie die Erfahrungen aus Israel zeigen [15, 16].
- Der geringe individuelle Nutzen bei gesunden Kindern/Jugendlichen rechtfertigt aktuell keine generelle COVID-19-Impfempfehlung für Kinder und Jugendliche. Siehe auch zwei prägnante Darstellungen dieses Sachverhalts von Urs P. Gasche auf www.infosperber.ch.
- Wer sich impfen lassen möchte, sollte die Impfung bekommen können. Die COVID-19-Impfung soll also für Kinder/Jugendliche auf ihren und den elterlichen Wunsch möglich sein, insbesondere bei relevanten Vorerkrankungen. Dieses Vorgehen wird nicht nur von der EKIF [3], sondern auch in der neuesten Aktualisierung der COVID-19-Impfempfehlung der deutschen ständigen Impfkommission (STIKO) empfohlen.
- Das Thema der COVID-19-Impfung von Kindern/Jugendlichen verlangt eine sorgfältige öffentliche Diskussion [22]. Wie bei allen Impfungen in dieser Altersgruppe muss für den Entscheid das Alter, die Urteilsfähigkeit und der Wille des Kindes/Jugendlichen einbezogen.
- Da die Kinder/Jugendlichen für die SARS-CoV- 2-Übertragung eine untergeordnete Rolle spielen, dürfen ihnen aus der Nichtimpfung keine gesellschaftlichen Nachteile erwachsen. Wir unterstützen die Bestrebungen der EKIF explizit, dass die Impfung bei unter 16-Jährigen keine Vorraussetzung für den Besuch von gesellschaftlichen Anlässen sein soll.
- In der Impfkommunikation soll auf mögliche übertriebene COVID-Ängste der erwachsenen Bevölkerung und der Eltern eingegangen und diese abgebaut werden. Es wäre unethisch, Kinder/Jugendliche v.a. wegen der Ängste der Erwachsenen zu impfen. Wir begrüssen daher die bisherigen Bemühungen der EKIF für eine nuanciere, transparente und faire Impfempfehlung und Aufklärung der Kinder und Jugendlichen sehr.
Die vollständige Literaturliste finden Sie in der Online-Version des Artikels unter primary-hospital-care.ch.