Um den Beitrag der integrativen Medizin in der gegenwärtigen Covid-19-Pandemie ging es bei einem viertägigen Kongress der Academy of Integrative Health & Medicin (AIHM) Ende März in Kalifornien: ‹Hope, Resilience and Healing in the Covid-19 Era›. Tido von Schoen-Angerer, Vizepräsident der Internationalen Vereinigung der Anthroposophischen Medizin (IVAA), war als Vertreter dabei. Er sieht eine positive Zukunft für die weitere Entwicklung der integrativen Medizin.
Wie ist die Stellung der integrativen Medizin in den USA?
In den USA ist die integrative Medizin gut, aber anders verankert. Es gibt seit vielen Jahren das National Center for Complementary and Integrative Health (NIH) als nationale Förderung der Forschung, außerdem im Academic Consortium for Integrative Medicine and Health einen Zusammenschluss der Spitzenuniversitäten, die auch zu diesem Thema forschen.
Wenn man diese internationale Ebene anschaut, gewinnt man einen anderen Eindruck als hier. In der letzten Zeit wurden die integrativen Behandlungsansätze in den Medien lächerlich gemacht.
Die Kritiker, die aus den Kreisen der Skeptikerbewegung kommen, sind schon sehr effektiv in ihrer Einflussnahme auf die öffentliche Darstellung. Dabei handelt es sich bei der integrativen Medizin um ein international anerkanntes Forschungs- und Praxisfeld mit zunehmender Evidenz – das wird hier in Deutschland derzeit so nicht wahrgenommen.
Seit Ausbruch der Pandemie war in der Öffentlichkeit von den komplementären medizinischen Richtungen wenig zu hören. Hat man da der konventionellen Medizin nicht zu sehr das Feld überlassen?
In der Realität war es so, dass viele Kolleginnen und Kollegen, die integrativ behandeln, tätig waren und Covid-19-Erkrankte behandelt haben, auch in der Prävention. Das wurde nur nicht unbedingt in die Öffentlichkeit getragen, was vielleicht einer gewissen Vorsicht entsprach. Es geht keinesfalls darum, jetzt Heilsbotschaften zur Bekämpfung von Covid-19 zu verbreiten oder alternative Behandlungen anzupreisen. Die integrative Medizin, das kann man nicht oft genug betonen, arbeitet wissenschaftsbasiert auf der Basis des State of the Art der konventionellen Medizin. Trotzdem gibt es inzwischen gute Erfahrungen in der integrativen Behandlung der Pandemie. Das wollten wir mit unserem Beitrag zum Kongress von AIHM zeigen. Es wurden beim Webinar zwar auch Arzneimittel genannt, die eingesetzt worden sind, aber wir wollten damit keine Behandlungsempfehlungen geben, es ging zunächst einmal um Erfahrungsberichte.
In Deutschland gab es Querdenken-Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen, auf denen auch Ärztinnen und Ärzte aus dem Bereich der komplementären bzw. integrativen Medizin auftraten. Welche Auswirkungen hat das?
Die Tendenzen in der Gesellschaft machen auch vor der Community der integrativen Medizin nicht halt. Ob dort mehr Vertreter und Vertreterinnen anzutreffen sind, weiß ich nicht, aber es schädigt das Image der ganzen Bewegung, wenn man die Gefahr durch das Virus kleinredet oder den Nutzen der Impfung grundsätzlich infrage stellt. Das ist Wasser auf die Mühlen der Kritik.
Was kann man gegen diesen Imageschaden unternehmen?
Wir als IVAA müssen deutlich machen, wo wir stehen. Wir sind nicht gegen Impfungen. Sinnvoll ist sicher, die Realität der klinischen Versorgung darzustellen, wie wir das jetzt auf dem Kongress getan haben, damit nicht einige wenige, die bei den Querdenken-Demonstrationen auftreten, das Bild bestimmen. Auf der anderen Seite sollten wir auch innerhalb der Bewegung versuchen, im Dialog mit anderen Meinungen zu bleiben. Wichtig ist sicherlich auch, die Medienkompetenz in der Ausbildung von Ärztinnen und Therapeuten zu schulen, damit Quellen von Informationen besser geprüft werden.
Wie geht es aus Ihrer Sicht weiter mit der integrativen Medizin?
Die Zukunft sehe ich positiv: Die Bewegung der integrativen Medizin wächst. Die Pandemie führt möglicherweise auch dazu, dass hier noch mehr Kräfte freigesetzt werden. Die integrative Medizin ist auf jeden Fall bereits jetzt eine politische Realität, die WHO hat die Einbeziehung traditioneller, komplementärer und integrativer Medizin explizit als Strategie formuliert. Bereits zu Beginn der Pandemie gab es einen Workshop der WHO, in dem sich diese Richtungen ausgetauscht haben. Für viele Länder, gerade in Afrika, hat es politisch Priorität, die eigenen Traditionen einzubeziehen. Es wird eine große Aufgabe sein, diese Traditionen in die konventionelle Medizin einzubeziehen, auch in Ausbildung und Forschung.
Sie waren als Arzt in vielen Ländern tätig, auch für Ärzte ohne Grenzen: Gegenwärtig stehen die Impfstoffe vorwiegend den Industrienationen zur Verfügung und in ärmeren Ländern können noch nicht einmal die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitswesen geimpft werden. Lässt sich die Pandemie auf einem Kontinent bekämpfen?
Das ist eine Katastrophe mit Ansage, denn sowohl die Organisationen der Zivilgesellschaft als auch die der Ärztinnen und Ärzte haben von Anfang an darauf hingewiesen, dass die Resultate der Forschung zur Pandemie weltweit zur Verfügung gestellt werden müssen. Das heißt zum Beispiel, dass Patente keine Hindernisse bilden dürfen und die Impfstoffe gleich verteilt werden müssen.
Jetzt haben sich aber doch die Nationalismen durchgesetzt. Die reichen Nationen, auch die EU, haben sich bei den Pharmafirmen eingekauft und es sind nur die Reste, die an die ärmeren Länder gehen. Das kann so nicht funktionieren. Den armen Ländern bleibt ja gar nichts anderes übrig, als zur Bekämpfung der Pandemie zu impfen. Sie können sich oftmals weder Maßnahmen wie Lockdowns leisten, weil die Menschen von der Hand in den Mund leben, und auch Social Distancing ist bei beengten Wohnverhältnissen nicht möglich. So ist zu erwarten, dass es in ärmeren Ländern weiterhin zu hohen Infektionsraten kommt, was wiederum das Risiko von Virusmutanten erhöht, und das wirkt sich auch wieder auf die Bekämpfung der Pandemie bei uns aus.
Dieser Hintergrund wirft ein anderes Licht auf die Impfdiskussion hier bei uns.
Die Frage «Lasse ich mich jetzt impfen oder nicht?» ist vor diesem Hintergrund eine echte Luxusdiskussion!
Das Gespräch führte Cornelie Unger-Leistner von Nexus News Agency (NNA).
Foto: Tido von Schoen Angerer (NNA)
Quelle: Das Goetheanum, Ausgabe 23, 4. Juni 2021